„Dann steckten sie meinen Kopf in die Toilette“

Der Brief des russischen Oppositionellen Ildar Dadin aus dem Gefängnis liest sich grausam. Zu Beginn seiner Haft seien ihm zwei Rasierklingen in sein Gepäck untergeschoben worden. Das sei als Anlass genutzt worden, um ihn in eine Strafzelle zu sperren. Alle seine Sachen, auch Zahnbürste und Toilettenpapier, seien ihm genommen worden. Als er aus Protest gegen diese Behandlung in einen Hungerstreik trat, sei der Direktor des Straflagers persönlich mit weiteren Mitarbeitern in seine Zelle gekommen.

Der Brief des russischen Oppositionellen Ildar Dadin aus dem Gefängnis liest sich grausam. Zu Beginn seiner Haft seien ihm zwei Rasierklingen in sein Gepäck untergeschoben worden. Das sei als Anlass genutzt worden, um ihn in eine Strafzelle zu sperren. Alle seine Sachen, auch Zahnbürste und Toilettenpapier, seien ihm genommen worden. Als er aus Protest gegen diese Behandlung in einen Hungerstreik trat, sei der Direktor des Straflagers persönlich mit weiteren Mitarbeitern in seine Zelle gekommen.

„Sie fingen an, mich zusammen zu verprügeln. An diesem Tag wurde ich vier Mal geschlagen, von zehn oder zwölf Menschen gleichzeitig, sie traten mich mit Füßen. Nach dem dritten Mal steckten sie meinen Kopf in die Toilette“, steht im Brief. Am Tag danach habe man seine Hände hinter dem Rücken gefesselt und ihn an den Handschellen für eine halbe Stunde aufgehängt. Danach habe man ihm die Unterhose runtergezogen und gedroht, ein anderer Häftling werde ihn gleich vergewaltigen, wenn er nicht seinen Hungerstreik beende. Der Direktor des Straflagers habe Dadin damit gedroht, ihn zu töten, falls er sich beschweren werde.

Den Text diktierte er seinem Anwalt, er wurde auf der Nachrichtenseite „Meduza“ veröffentlicht. Anfang September wurde Dadin in ein Straflager in der nordrussischen Region Karelien gebracht. Dadin ist der erste Aktivist in Russland, der für die Teilnahme an friedlichen Protesten ins Gefängnis gesperrt wurde. 

Der Skandal erreichte auch den Kreml

Im vergangenen Jahr wurde er für „mehrfachen Verstoß“ gegen das Versammlungsrecht zu drei Jahren Straflager verurteilt. Die Strafe wurde in einer weiteren Instanz auf zweieinhalb Jahre reduziert. Sein Hilferuf sorgte für öffentliche Empörung. In Moskau kamen Menschen mit Plakaten zur Zentrale der Strafvollzugsbehörde und forderten Aufklärung. Der Skandal erreichte auch den Kreml. Dmitri Peskow, der Sprecher des russischen Präsidenten, erklärte, dass Wladimir Putin über den Fall informiert werde.

Die Straflagerleitung bestreitet alle Vorwürfe. Die russische Strafvollzugsbehörde erklärte, Dadin habe in einem Video seine Worte über Folter zurückgenommen. Das Video wurde allerdings nicht veröffentlicht. Die Frau des Oppositionellen, Anastassia Sotowa, glaubt nicht daran, dass er das freiwillig getan haben könnte. „Wenn er seine Worte zurücknimmt, bedeutet es, dass er Angst hat“, sagte sie im Fernsehsender RBK. 

Die Behörde erklärte auch, Dadin sei von einer unabhängigen Kommission der Ärzte untersucht worden, die keine Spuren der Folter an seinem Körper entdeckt hätte. Die regionale Ermittlungsbehörde begann, den Fall zu überprüfen, erklärte aber bereits am Donnerstag, man habe keine Beweise für Folter gefunden. Der Direktor des Straflagers wurde aber für die Zeit der Überprüfung seines Amtes enthoben. Die russische Menschenrechtsbeauftragte besuchte Dadin und schlug vor, ihn in ein anderes Gefängnis zu verlegen.

Gewalt ist an der Tagesordnung

Gewalt in russischen Gefängnissen ist ein verbreitetes Problem, doch die Fälle sind schwer zu untersuchen. „Häufig erzählen Häftlinge nichts über die Verbrechen“, sagt der Anwalt Pawel Tschikow. „Im Gefängnis können sie sich an niemanden wenden.“ Für eine Untersuchung brauche man objektive Beweise wie Aufnahmen von Überwachungskameras oder Zeugenaussagen von anderen Häftlingen.

Doch die Straflagerleitung habe oft viele Möglichkeiten, eine Untersuchung zu verhindern. „Straflager sind eine geschlossene Zone nicht nur für Menschenrechtler und Journalisten, sondern auch für die Ermittlungsbehörde und Staatsanwälte. Die Straflagerleitung kann zum Beispiel Häftlinge, die als Zeugen aussagen könnten, schnell in ein anderes Lager verlegen.“

Die Zustände in russischen Gefängnissen werden schon lange von Menschenrechtlern kritisiert. Die Frauen aus der Punkband Pussy Riot, die für ihren Auftritt in der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau verurteilt wurden, berichteten über die unmenschlichen Haftbedingungen. Gewalt, Erniedrigungen und Rechtlosigkeit im Straflager gehören laut ehemaligen Häftlingen zum Alltag.

Mit Stöcken verprügelt, von Hunden gejagt

Das Straflagersystem mit über 650.000 Insassen und rund 300.000 Wächtern sei „ein eigener Staat im Staate, in dem Menschen nicht selten erniedrigt und gefoltert werden“, schrieb Sergej Petrjakow, Leiter der Menschenrechtsorganisation Rechtszone, in einem Gastbeitrag für die Internetseite „Slon“. Im Fall von Dadin sei die Reaktion der Gesellschaft bezeichnend – es gebe eine „massenhafte Unzufriedenheit mit der allgegenwärtigen Gewalt“.

In der Vergangenheit blieb die öffentliche Empörung über grausame Haftbedingungen oft aus, auch in den Fällen, in denen sadistische Gewalt von Ermittlern bewiesen wurde. Der wohl bekannteste Fall ist die Misshandlung von Insassen im Straflager von Kopejsk im Gebiet Tscheljabinsk. Nachdem eine neue Gruppe von Häftlingen ins Lager gebracht wurde, wurden sie von den Wächtern brutal verprügelt. Sie mussten nackt durch die Gänge des Lagers kriechen, Toiletten mit ihren Zahnbürsten putzen, einige mussten Gummistöcke küssen, mit denen sie verprügelt wurden. Vier Häftlinge wurden dabei zu Tode geschlagen. 

In Russland sorgt ein Handyvideo derzeit für Furore. Darauf zu sehen: erniedrigende Szenen, Misshandlung, Folter. Es soll vermeintliche Übergriffe der Wachen in einem Gefängnis im Ural zeigen. 

Danach erklärten die Wächter, sie hätten auf diese Weise einen Aufstand im Straflager gestoppt, und wurden sogar belohnt. Erst später wurde in dem Fall ermittelt, die Wächter wurden zu Haftstrafen verurteilt. In einem anderen ermittelten Fall kamen Wächter des Straflagers in der sibirischen Stadt Krasnokamensk nur mit Bewährungsstrafen davon, nachdem sie auf brutalste Weise mit Stöcken und Elektroschocks Häftlinge verprügelten und Wachhunde auf sie hetzten.

Ein Ort, „an dem Menschen gebrochen werden“

Für einen öffentlichen Schock sorgten vor vier Jahren auch Berichte über Zustände auf einer Polizeistation in der Stadt Kasan in der Republik Tatarstan. Dort starb ein festgenommener Mann, nachdem er von Polizisten mit einer Sektflasche vergewaltigt wurde. Auch weitere Opfer meldeten sich zu Wort und erzählten, wie sie auf derselben Polizeistation mit Folter zu Zugeständnissen gezwungen wurden.

Um die Zustände in Straflagern und Haftanstalten zu überprüfen, wurden in Russland 2008 „zivile Beobachterkommissionen“ gegründet. Doch ob sie tatsächlich den Beschwerden der Häftlinge nachgehen, hängt vor allem von der Zusammensetzung dieser Gruppen ab. 

Unabhängige Menschenrechtler können mehr bewirken als ehemalige Polizisten. Im Oktober wurden diese Kommissionen – in ganz Russland gibt es 43 davon – neu besetzt. Dabei wurden viele renommierte Menschenrechtler nicht in die Kommissionen gewählt, dagegen aber mehrere ehemalige Mitarbeiter der Strafvollzugsanstalten. 

So darf in Moskau der Ex-Leiter der Untersuchungshaftanstalt Butyrka, Dmitri Komnow, ab jetzt als „ziviler Beobachter“ die Haftanstalten überprüfen. Er führte die umstrittene Haftanstalt, in der auch der Anwalt Sergej Magnitski einsaß und starb. Er hatte sich mehrmals über seine Haftbedingungen in Butyrka, wo ihm medizinische Hilfe verweigert wurde, beschwert.

„Wir haben diejenigen gestört, die wollen, dass russische Gefängnisse die Hölle auf Erden bleiben“, schrieb dazu die Journalistin Soja Swetowa, die acht Jahre lang Beobachterin in der Moskauer Kommission war. In diesem Jahr kandidierte sie für eine ähnliche Kommission in der Region Mordwinien und scheiterte. „Das russische Gefängnis ist nicht einfach ein Ort, an dem Häftlingen ihre Freiheit entzogen wird. In Russland sind Gefängnisse immer noch ein Ort, an dem Menschen gebrochen werden.“

welt.de