Rund um den 26. März: Eine neue Welle politischer Verfolgungen

Die gegen Korruption gerichteten Aktionen, die am 26. März in dutzenden russischen Städten stattgefunden hatten, haben zu einer neuen Welle der Repression gegen Aktivisten und die Zivilgesellschaft als solche geführt. Dabei geht es nicht nur um die Festnahmen an sich, die ordnungsrechtlichen Arreste und hohen Geldstrafen; als Antwort auf die massenhafte Teilnahme von Bürgern an Protestaktivitäten hat die Staatsmacht eine ebenso massive Kampagne des Drucks auf Aktivisten begonnen, die sich zu einem großen und massiven Strafverfahren entwickeln kann.

Die gegen Korruption gerichteten Aktionen, die am 26. März in dutzenden russischen Städten stattgefunden hatten, haben zu einer neuen Welle der Repression gegen Aktivisten und die Zivilgesellschaft als solche geführt. Dabei geht es nicht nur um die Festnahmen an sich, die ordnungsrechtlichen Arreste und hohen Geldstrafen; als Antwort auf die massenhafte Teilnahme von Bürgern an Protestaktivitäten hat die Staatsmacht eine ebenso massive Kampagne des Drucks auf Aktivisten begonnen, die sich zu einem großen und massiven Strafverfahren entwickeln kann.

In dutzenden russischer Städte endeten die Aktionen mit Festnahmen – mehr als 1500 Personen fanden sich in Polizeiwachen wieder. Allein in Moskau wurden auf der Tverskaja-Straße und in ihrer Nähe mindestens 1043 Personen festgenommen. Dabei erfolgten diese Festnahmen in grober Form, unter Einsatz von Sondermitteln [Anm.d.Übers.: Waffen mit nicht-tödlichen Folgen, z.B. Schlagstöcke, Reizgas] und körperlichem Zwang, der in keinster Weise der Aufgabe gerecht wird, die Sicherheit bei einer friedlichen Protestveranstaltung zu gewährleisten.

Den meisten Festgenommenen wurden ordnungswidrigkeitliche Verstöße vorgeworfen. Nach § 19.3 OWiG RF ("Nichtbefolgen einer rechtmäßigen Anweisung eines Polizeimitarbeiters") wurden in Moskau über 65 Personen zu Haft zwischen zwei und 15 Tagen verurteilt; insgesamt wurden in der Summe Haftsstrafen von 646 Tagen verhängt. Nach § 20.2. OWiG RF ("Verstoß gegen die festgelegte Ordnung für die Organisation oder Durchführung einer Versammlung, Kundgebung, Demonstration, eines Marsches oder einer Einzelkundgebung") haben Gerichte bereits Geldstrafen zwischen 10.000 bis 20.000 Rubeln gegen etwa 200 Moskauer verfügt. Die Verfahren in Ordnungswidrigkeitssachen werden im Gericht des Tverskoj-Bezirkes Moskau und im Moskauer Stadtgericht noch sicher die ein oder andere Woche verhandelt werden.

Parallel – bereits seit dem Abend des 26. Märzes, läuft der Prozess der Vorbereitung von Strafsachen. Ausgehend von den Daten, über die OVD-Info verfügt, kann es sich dabei um eine Vielzahl einzelner Strafverfahren in verschiedenen russischen Städten handeln, die ein gemeinsames Thema vereint: die Teilnahme an den Protesten am 26. März 2017.

Zum jetzigen Zeitpunkt haben die Strafverfolgungsbehörden bereits die Einleitung einiger Strafverfahren aufgrund einer ganzen Reihe von Paragraphen verkündet.

Schon am Abend des 26. März wurde die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nach § 317 StGB RF ("Angriff auf das Leben eines Mitarbeiters der Rechtspflegeorgane") bekannt. Später stellte sich heraus, dass der Geschädigte Evgenij Gavrilov ist – ein Mitarbeiter des Zweiten Operativen Regiments der Hauptabteilung des Innenministeriums für Moskau, der im Bolotnaja-Fall [Anm.d.Übers.: Strafverfahren nach der Demonstration gegen Wahlfälschung am 6. Mai 2012] als Geschädigter auftrat. Nach Angaben der Ermittler hatte damals Ivan Nepomnjashhich gegen ihn "Gewalt angewendet" (dieser verbüßt aktuell eine Freiheitsstrafe in einem Lager).  Nach unbestätigten Angaben hat Gavrilov am 26. März ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten.

Am selben Abend erschienen Ermittler des Ermittlungskomitees in mindestens 24 der über 50 Moskauer Polizeiwachen, auf die die Festgenommenen verbracht worden waren, und verhörten die Festgenommenen. Nach Angaben der Festgenommenen selbst teilten ihnen die Ermittler in den verschiedenen Wachen dabei unterschiedliche Informationen mit, im Rahmen welches Strafverfahrens das Gespräch geführt werde: mal hieß es, es sei ein Verfahren wegen Massenunruhen; mal hieß es, es ginge um "Extremismus". In Anbetracht der schweren prozessualen Verstöße (z.B. kein Zugang für Anwälte zu den Festgenommenen) und der OVD-Info bekannten Fakten über auf die Festgenommenen ausgeübten Drucks bei diesen "Befragungen", lässt sich schon jetzt sicher sagen, dass es nicht um die Sammlung von Material geht, sondern um eine vollwertige Fälschung eines Strafverfahrens.

Danach erhielten viele Festgenommene Vorladungen zu Verhören; und im Zusammenhang mit der Teilnahme von Schülern an den Aktionen lud das Ermittlungskomitee Direktoren und andere Mitarbeiter der Schulen vor, an denen die Festgenommenen Schüler sind.

Außerdem gab es am 26. März die Information, dass ein Ermittlungsverfahren wegen Erweckens von Hass oder Feindseligkeit (§ 282 StGB RF) eingeleitet worden sei: Nach Mitteilung von Kira Jarmysh, Pressesprecherin von Aleksej Naval'nyj, wurde dieser Paragraph während der Durchsuchung des Büros des Fonds für Korruptionsbekämpfung Leonid Volkov, dem Leiter des Wahlstabes des Politikers, vorgeworfen. Nach Angaben der Zeitung RBK wurden die im Büro des Fonds für Korruptionsbekämpfung Festgenommenen zu diesem Straftatbestand befragt, bislang gibt es aber keine weitere Entwicklung in dieser Geschichte.

Am 27. März verkündete das Ermittlungskomitee bereits ein Ermittlungsverfahren nach drei Paragraphen: außer § 317 StGB wurden auch § 213 StGB (Rowdytum) und § 318 II StGB (Anwendung von Gewalt gegen einen Vertreter der Staatsmacht, die gefährlich für Leben und Gesundheit ist) angeführt. Im Rahmen dieses Verfahrens wird laut Ermittlungskomitees geprüft, ob "nicht nur Minderjährigen, sondern auch anderen Teilnehmern an der Veranstaltung eine Belohnung für den Fall der Festnahme wegen der Teilnahme an einer nicht-genehmigten Massenaktion am 26. März in Moskau angeboten worden war”. Die Mitteilung des Ermittlungskomitees erschien kurz nach der Erklärung von Putins Pressesprecher Dmitij Peskov über die Tatsache einer "Bezahlung" für die minderjährigen Teilnehmer an der Aktion.

Im Rahmen dieses Verfahrens wurden bei Aleksej Naval'nyj im Sondergefängnis Nr. 2, wo er seine Arreststrafe verbüßt, Gegenstände eingezogen, darunter die Schnürsenkel.

Einige Tage später wurde bekannt, dass Verhöre der Teilnehmer der Moskauer Aktion, die vom Gericht zu Arresthaft verurteilt worden waren, begannen. Vertreter einer unbekannten Staatsstruktur, die sich nicht vorstellten und keine Dokumente vorlegten, verhörten die Festgenommenen in den Sondergefängnissen und auf der Petrovkastr. 38 [Anm.d.Übers: Sitz der Hauptverwaltung des Innenministeriums für Moskau]. Dabei wurde den Verhafteten gedroht, sie wurden unmenschlich behandelt und es wurden verschiedene Techniken psychologischen Drucks ausgeübt. Die unbekannten operativen Mitarbeiter gaben den Verhörten eindeutig zu verstehen, dass ein neuer "Bolotnaja-Fall" vorbereitet wird.

Auch diese Verhöre können zur Grundlage für ein gefälschtes Strafverfahren werden.

Am 1. April verkündete das Ermittlungskomitee die Einleitung eines weiteren Verfahrens wegen des Auftauchens einer Mitteilung unklarer Herkunft in sozialen Netzwerken, die dazu aufrief, auf den Roten Platz zu gehen: nach § 212 III StGB RF (Aufruf zu Massenunruhen). Am 6. April nahm das Ermittlungskomitee einen ersten "Verdächtigen" fest, am 7. April wurde sein Name bekannt. Es handelt sich um den 25-jährigen Moskauer Mathematiklehrer Dmitrij Bogatov. Das Gericht gab dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Untersuchungshaft gegen Bogatov nicht statt. Er wurde nicht freigelassen. Am nächsten Tag hielt man ihm eine schwerwiegendere Beschuldigung vor – Rechtfertigung von Terrorismus (§ 202.2 StGB RF und Vorbereitung zur Organisation von Massenunruhen (§ § 30 I i.V.m. § 212 I StGB RF). Danach wurde eine zweimonatige Untersuchungshaft verhängt.

Nach einem ähnlichen Szenario sind Unannehmlichkeiten für hunderte und tausende Personen möglich, die im Internet Ankündigungen für Protestaktionen am 2. April verbreitet haben.

In genau diesem Verfahren haben schon die ersten Verhöre von "Zeugen" begonnen. Die bei unterschiedlichen Aktionen am 2. April in Moskau Festgenommenen wurden verhört oder man versuchte es. Befragt wurden sie nach der Aktion vom 26. März. Das Ermittlungskomitee lud mindestens drei Personen, die bei einer Einzelkundgebung am 2. April festgenommen worden waren, vor. Eine davon erzählte ausführlich über den Inhalt der Fragen, die insbesondere politische Ansichten, Accounts in sozialen Netzwerken und Hobbies betrafen.

Ebenso gibt es Informationen über die Einleitung von Ermittlungsverfahren in anderen russischen Städten. In Volgograd figuriert im Strafverfahren wegen Gewaltanwendung gegen einen Vertreter der Staatsmacht (§ 318 StGB RF) der Student Maksim Bel'dinov, er darf die Stadt nicht verlassen. Nach Informationen der Novaja Gazeta wurde Bel'dinov festgenommen, als er einem Schüler helfen wollte, den die Polizei an Beinen und Armen trug. In Tomsk wurde ein Ermittlungsverfahren wegen bewusster falscher Meldung eines Terroranschlages (§ 207 StGB RF) eingeleitet infolge der Eröffnung des Wahlkampfstabes von Naval'nyj am 21. März. An diesem Tag evakuierte die Polizei alle Aktivisten auf die Straße wegen einer angeblich im Gebäude befindlichen Bombe. In dieser Sache begann das Zentrum für den Kampf gegen den Extremismus mit der Vorladung von Teilnehmern an der Aktion am 26. März. Wie die Novaja Gazeta die Worte der Aktivisten wiedergibt, betraf ein Großteil der Fragen ihr Verhältnis zu Naval'nyj

Ein weiteres Ermittlungsverfahren, das indirekt mit dem 26. März zusammenhängt, wurde in Irkutsk eingeleitet. Am 8. April wurden einige Personen festgenommen; alle hatten an der Aktion am 26. März teilgenommen und wollten am 9. April eine Versammlung durchführen, die den Ereignissen vom 26. März gewidmet sein sollte. Später stellte sich heraus, dass gegen einen von ihnen (Dmitrij Litvin) ein Verfahren wegen der Beleidigung der Gefühle von Gläubigen (§ 148 StGB RF) eingeleitet worden war für irgendeine Veröffentlichung in einem sozialen Netzwerk; alle anderen haben in dem Verfahren die Rolle von Zeugen. Dennoch wurden sie im Zentrum für den Kampf gegen Terrorismus zu den Protestaktionen und Aufrufen zu Terrorismus befragt.

Die Vorbereitung von Strafverfahren ist nicht die einzige Langzeitwirkung der Aktion vom 26. März.

In allen Regionen Russlands, in denen Aktionen stattfanden, begann eine massenhafte Welle der Druckausübung auf Aktionsteilnehmer. Aktivisten werden festgenommen, zu Verhören vorgeladen, aus den Universitäten geworfen oder man droht ihnen damit, Gespräche mit ihren Eltern werden geführt.

Derartige Meldungen auf der Hotline von OVD-Info hören nicht auf und wir führen nur einige Fälle an, die das, was gerade im ganzen Land geschieht, sehr gut illustrieren.

In Tcheboksary wurde ein Teilnehmer an der Aktion direkt während der Probe eines Orchesters, in dem er Geige spielt, festgenommen. In Archangelsk brachte die Polizei eine ältere Frau gewaltsam aus einem Krankenhaus vor Gericht. Im Primorer Gebiet werden Schuldirektoren dazu aufgefordert, den Schülern zu verbieten, an Demonstrationen der Opposition teilzunehmen. In Volgograd werden Schüler vom Ermittlungskomitee vorgeladen und die Polizei geht mit den Fotografien von Teilnehmern durch die Universitäten und nimmt sie direkt während der Vorlesungen fest.

In Tchita riefen Mitarbeiter des FSB die Mutter des Organisators der Aktion an und baten sie, "den Sohn an die Kandare zu nehmen". Auch in Saratov werden Studenten direkt im Institut festgenommen. In dieser Stadt, in der es während der Aktion überhaupt keine Festnahmen gab, verspricht man dennoch, hunderte Teilnehmer zur Verantwortung zu ziehen. Weiter wurde dort ein Aktivist zur Polizei vorgeladen, indem man ihn vom Telefon seiner Mutter aus anrief. In Krasnojarsk gibt es Anrufe der Polizei mit Fragen zur Korruption und zu Naval'nyj (solche Anrufe erhalten auch Personen, die überhaupt nicht bei der Aktion waren). In Orsk kamen Mitarbeiter der Straffahndung zu einem Aktivisten nach Hause. In dieser Stadt werden auch Aktionsteilnehmer gekündigt oder aus den Universitäten exmatrikuliert. Es werden auch Zeugen direkt während Gerichtsverhandlungen festgenommen und dann zu Geldstrafen verurteilt. In Nizhnyj Novgorod erstellte die Polizei Protokolle über "die Nicht-Erfüllung der Pflichten zur Erziehung von Minderjährigen" gegen die Eltern von jungen Aktivisten.

Wir haben nur einzelne Fälle der Druckausübung beschrieben und wissen möglicherweise noch nicht von allen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Aber leider ist die Tendenz bereits zu erkennen: Als Antwort auf die Aktion vom 26. März hat die Staatsmacht die Vorbereitung eines neuen politischen Strafverfahrens begonnen und einen Mechanismus der Einschüchterung und Druckausübung gegen Aktivisten im ganzen Land in Gang gesetzt.

Übersetzung – Martina Steis

Quelle – ovdinfo.org