„Eine Katastrophe für Russland“

Die russische Regierung drangsaliert und kriminalisiert Menschenrechts- und Umweltaktivisten. Viele zivilgesellschaftlichen Organisationen stehen vor der Selbstauflösung. Ein Interview mit Jens Siegert, langjähriger Chef des Moskau-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung.

Die russische Regierung drangsaliert und kriminalisiert Menschenrechts- und Umweltaktivisten. Viele zivilgesellschaftlichen Organisationen stehen vor der Selbstauflösung. Ein Interview mit Jens Siegert, langjähriger Chef des Moskau-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung.

Herr Siegert, Sie verfolgen die politische Entwicklung in Russland hautnah. Gerade war in den Zeitungen zu lesen, dass sich das Komitee gegen Folter selbst aufgelöst hat. Wie steht es um die NGOs in Russland?

Es gibt in Russland allein mehr als 140.000 beim Justizministerium registrierte NGOs. Auf Russisch heißen sie NKOs, „Nicht-kommerzielle Organisationen“. Den meisten von ihnen geht es einigermaßen – solange sie sich um soziale Fragen kümmern, nicht anecken, den Staat oder wirtschaftliche Interessen von Firmen und Beamten nicht stören. Sehr schlecht geht es aber (fast) allen, die es sich herausnehmen, den Staat, die Regierung, die Regionalverwaltungen zu kritisieren oder sich mit einigen, umstrittenen Themen zu beschäftigen. Das sind zum Beispiel Menschenrechts- und auch Umweltaktivisten. Alle, die sich mit der Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit der Sowjetunion beschäftigen, sich für Geschlechtergerechtigkeit und vor allem für die Rechte von Homosexuellen einsetzen, bekommen große Schwierigkeiten. Sie können im Land kaum Geld für ihre Arbeit sammeln, weil es für potenzielle Spender gefährlich ist. Wenn sie ausländisches Geld nehmen, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit vom Staat zu „ausländischen Agenten“ erklärt – und kriminalisiert. Außerdem riskieren sie, nach dem „Gesetz über die Bekämpfung des Extremismus“ angeklagt zu werden, von der Steuerbehörde traktiert oder einfach nur mit so vielen „Prüfungen“ von der Feuerwehr über das Gesundheitsamt bis zum Arbeitsschutz überzogen zu werden, dass die nicht mehr zum Arbeiten kommen.

Welche NGOs betrifft das?

Heute, Stand 29. Juli, sind auf der entsprechenden Website des Justizministeriums 81 NGOs als Agenten aufgelistet. Vorige Woche wurden in Tschetschenien acht NGOs zu „Agenten“ erklärt, ihre Namen werden wohl in den kommenden Tagen auf der Website auftauchen. So geht es seit Ende vorigen Jahren. Langsam aber sicher, so meine Einschätzung, werden alle russischen NGOs, die Geld aus dem Ausland nehmen auf die Liste gelangen. Fünf NGOs haben es in den vergangenen Monaten geschafft, sich wieder von der Liste streichen zu lassen, was seit März möglich ist. Dazu mussten sie auf ausländisches Geld verzichten und schon seit mindestens einem Jahr kein Geld aus dem Ausland mehr angenommen haben. Die meisten gelisteten aber werden sich formell auflösen und andere Wege suchen, ihre Arbeit fortzusetzen. Als Beispiele mögen eine Reihe von Memorial-Mitgliedorganisationen dienen, wie das Menschenrechtszentrum Memoria, Memorial Komi oder Perm-36, die das gleichnamige Lagermuseum betrieben haben, Transparency International, die Wahlbeobachter von Golos, die Ökologen von Ecodefense, die Organisation „Planet der Hoffnung“ aus der geschlossenen Atomstadt Osjorsk im Ural, die sich um die Opfer der Atomkatastrophe von Majak 1957 kümmert oder das Zentrum für Genderforschung Samara, das wegen „verdeckter Antipropaganda gegen die staatliche Familienpolitik“ zum „Agenten“ erklärt worden ist . Nun sind es schon fast 90 Organisationen, sie alle wären es wert, erwähnt zu werden. Sie alle machen, meist seit vielen Jahren, in ihren Bereichen hervorragende Arbeit und helfen vielen Menschen.

Was wird den NGOs vorgeworfen, wofür werden Sie bestraft?

Der Leiterin der Permer NGO Grani, Swetlana Makowezkaja, beispielsweise wurde vorgeworfen, sie sei Mitglied in zahlreichen Regierungkommissionen (in die sie unter anderem von Premierminister Medwedjew berufen wurde), nehme also Einfluss auf das Regierungshandeln und deshalb sei ihre Organisation als Agent einzustufen. Das zeigt, dass es wenig Sinn macht, sich mit diesen Begründungen zu beschäftigen. Das alles sind aus den Fingern gesogene Vorwände. Es geht darum, bisher unabhängige und sich unabhängig verhaltende NGOs zu disziplinieren, zu diskreditieren und vielleicht zum Aufgaben oder Einlenken zu bewegen. Leider scheint das nicht schlecht zu klappen. Strafbefehle über hohe Geldstrafen haben etwa Transparency International und Ecodefense bekommen. Sie gehen zwar vor Gericht dagegen vor, aber die Erfolgsaussichten sind gering.

Bleibt ihnen eine Alternative zur Selbstauflösung?

Es bleibt die Möglichkeit, kein ausländisches Geld mehr zu nehmen und sich wieder entlisten zu lassen. Das führt aber entweder dazu, einen großen Teil der Tätigkeit einzustellen. Einiges kann über ehrenamtliche Arbeit aufgefangen werden, aber manche Ausgaben, für Räume, Reisen oder Buchhaltung (die nach russischen Gesetzen für NGOs kompliziert ist und notwendig professionell gemacht werden muss), Publikationen, Websites, braucht man doch Geld. Im Land ist das für viele, insbesondere kritische Arbeit kaum oder nur sehr begrenzt zu bekommen. Zum „Agenten“ ist mit „Dyinastija“ auch eine der wenigen russischen Stiftungen gemacht worden, die unabhängige NGOs gefördert hat. Dynastija hat ebenso wie das Anti-Folter-Komitee die Selbstauflösung beschlossen. Viele Leute, die ihre NGO-Arbeit bisher praktisch hauptberuflich ausgeübt haben, müssen sich jetzt um ein anderes Auskommen für sich und ihre Familien kümmern.    

Was bedeutet es für Russland, wenn die Zivilgesellschaft zunichte gemacht wird?

Eines der letzten Korrektive staatlichen Handelns in Russland wird marginalisiert. Es gibt ohnehin kaum noch gegenseitige Machtkontrollen im Land. Der Kreml ist fast allmächtig, unabhängige Medien fehlen praktisch ganz. Die letzten werden wohl bald auch mit einem Gesetz gleichgeschaltet und der ausländischen Anteil an russischem Medienbesitz auf 20 Prozent beschränkt. Ich halte das für eine Katastrophe für Russland. Die ohnehin schon riesige staatliche Willkür wird weiter wachsen. Viele Menschen werden darunter leiden. Letztlich haben die NGOs in vielen Bereichen der russischen Gesellschaft dazu beigetragen, das Leben besser und auch den Staat effektiver zu machen. Die Korruption wird nun sogar wachsen. Die wenigen, die reich sind, werden noch reicher werden. Die Masse bleibt arm. Schon jetzt haben viele mobile, gut ausgebildete, aktive Menschen das Land verlassen oder denken darüber nach. Die Vernichtung unabhängiger NGOs könnte der Sargnagel für eine vernünftige, menschliche Modernisierung Russlands werden. Die staatlich verordnete Ruhe wird nicht anhalten. Soziale und auch politische Proteste werden früher oder später sicher kommen, weil der Staat die riesigen Probleme alleine, ohne Beteiligung des aktiven Teils der Gesellschaft, nicht wird lösen können, ja in großen Teilen gar nicht lösen will.

Interview: Andrea Hösch

greenpeace-magazin.de