Alexejewa: “Es wird in Russland Erfolge geben”

Die 88-jährige Menschenrechtlerin Ljudmilla Alexejewa verrät während ihres Berlin-Besuchs im DW-Interview, wieso sie an die demokratische Zukunft ihrer Heimat Russland glaubt – trotz aller Probleme der Gegenwart.

DW: Bundespräsident Joachim Gauck hat Sie am Montag zu einem Gespräch eingeladen. Früher haben Sie sich mehrmals mit Bundeskanzlerin Angela Merkel getroffen. Glauben Sie daran, dass der Westen die Lage der Menschenrechte in Russland wirklich beeinflussen kann? 

Die 88-jährige Menschenrechtlerin Ljudmilla Alexejewa verrät während ihres Berlin-Besuchs im DW-Interview, wieso sie an die demokratische Zukunft ihrer Heimat Russland glaubt – trotz aller Probleme der Gegenwart.

DW: Bundespräsident Joachim Gauck hat Sie am Montag zu einem Gespräch eingeladen. Früher haben Sie sich mehrmals mit Bundeskanzlerin Angela Merkel getroffen. Glauben Sie daran, dass der Westen die Lage der Menschenrechte in Russland wirklich beeinflussen kann? 

Ljudmilla Alexejewa: Auf die Lage der Menschenrechte in Russland sollen vor allem die russischen Bürger Einfluss nehmen. Russland bleibt, auch nach dem Zerfall der UdSSR, in der Menschenrechtsfrage hinter westlichen Staaten zurück. Deshalb werden wir uns freuen, wenn diese Staaten den russischen Bürgern helfen, das zu verbessern. In der Helsinki-Schlussakte ist die Frage der Menschenrechtslage in einem Staat an die Sicherheitsproblematik für seine Nachbarn geknüpft. Wenn wir ein demokratischer Staat sein werden, werden wir für unsere Nachbarn ungefährlich sein. Der Westen, aber auch Russland ist daran interessiert. Lasst uns zusammenarbeiten. 

Die Zahl der politischen Häftlinge in Russland wächst. Menschen werden inzwischen allein für das Teilen von Inhalten in sozialen Netzwerken zu Haftstrafen verurteilt. Doch die Gesellschaft schweigt. Empört Sie das? 

Die Gesellschaft schweigt nicht, doch sie wird in Fernsehkanälen und anderen Massenmedien nicht repräsentiert. In der modernen Welt ist es so: Wer nicht im Fernsehen ist, existiert nicht. Und doch schweigt die Gesellschaft nicht – ihre Stimme ist nur nicht zu hören.

Vor einigen Jahren hat das sogenannte "Gesetz über ausländische Agenten" mehrere Nichtregierungsorganisationen in Russland hart getroffen. Viele NGOs haben dann auf ausländische Finanzhilfe verzichtet, um nicht diffamiert zu werden. Haben Sie als Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe und Ihre Kollegen sich von diesem Schlag erholt? 

Die Moskauer Helsinki-Gruppe hat ihre Aktivitäten stark reduziert. Wir haben nur noch sieben feste Mitarbeiter, früher waren es 19. Wir mussten beliebte und gute Ausbildungsprogramme einstellen. Um Menschen einzuladen, muss man Tickets für sie bezahlen. Es ist nicht gerade billig, aus Chabarowsk nach Moskau zu fliegen. Wir haben dafür kein Geld. Deshalb haben wir unsere Ausbildungsprogramme eingestellt. Das ist sehr schade.

Wie soll sich der Westen gegenüber Russland verhalten: Weiterhin auf die Einhaltung europäischer demokratischer Prinzipien bestehen oder auf gemeinsame Interessen setzen? 

Russland hat sich verpflichtet, die Europäische Menschenrechtskonvention einzuhalten. Jetzt sollten sich sowohl russische Bürger als auch Menschen im Westen dafür einsetzen, dass dies wirklich geschieht. Das ist sehr schwierig. Die Moskauer Helsinki-Gruppe ist 40 Jahre alt. Aber wir haben uns von Anfang an schwierige, unmögliche Aufgaben gestellt.

Was halten Sie von den westlichen Sanktionen, die wegen der russischen Annexion der ukrainischen Krim 2014 eingeführt wurden?

Die russische Führung leidet darunter, denn es kommen keine Technologien. Ich kenne mich damit nicht aus. Aber die Bevölkerung leidet sehr. Auch bei uns im wohlhabenden Moskau ist die Auswahl an Lebensmitteln deutlich schlechter geworden, die Preise sind extrem hoch (Anm. d. Red.: Russland hat als Reaktion auf westliche Sanktionen den Import westlicher Lebensmittel gestoppt). Die Menschen haben angefangen zu sparen, auch am Essen. Ich möchte, dass dies ein Ende hat. Doch ich verstehe, dass das eine politische Frage ist. 

Sie selbst engagieren sich seit einem halben Jahrhundert dafür, dass Menschenrechte in Russland respektiert werden. Wie schaffen Sie es, nicht zu verzweifeln? 

So schlimm die Menschenrechtslage jetzt auch sein mag, sie ist immer noch besser als in der sowjetischen Zeit, als wir gar keine Rechte hatten. Wir sind immer noch hinter den europäischen Staaten zurückgeblieben, aber es gibt auch positive Veränderungen. Ich habe verstanden, dass man, um etwas Gutes zu erreichen, nicht 50, sondern 100 Jahre arbeiten muss. Es wird Erfolge geben, ich bin da optimistisch. 

Sie glauben wirklich, dass Russland eines Tages ein demokratischer Staat sein wird? 

Ich bin mir sicher, dass Russland ein Rechtsstaat und ein Teil der europäischen Völkerfamilie sein wird. Wir sind ein europäisches Land – kulturell, geschichtlich und von unserem Selbstverständnis her. Wir sind so wie ihr. Das muss passieren, doch dafür muss man sich einsetzen. Ich arbeite schon 50 Jahre und habe jetzt wenig Kraft. Doch ich habe Nachfolger, viele wunderbare Menschen. Sie können und wollen arbeiten. Wir werden es schaffen – mit Ihrer Hilfe.

Die 1927 auf der Krim geborene Ljudmilla Alexejewa gilt als Grande Dame der sowjetischen und russischen Menschenrechtsbewegung. 1976 war sie eine Mitbegründerin der Moskauer Helsinki-Gruppe. Sie leitet sie bis heute. 

Das Gespräch führte Oxana Evdokimova.

Quelle: dw.com