Russische Justiz. Wie das Menschenrechtszentrum Memorial für einen Text auf der Website von Memorial International bestraft wurde

Insgesamt 90 NGOs sind inzwischen vom Justizministerium zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden. Viele von ihnen haben sich inzwischen aufgelöst, andere auf ausländisches Geld verzichtet. Die meisten aber gehen weiter ihrer Arbeit nach und klagen unverdrossen gegen die Prüfungen und die staatliche Agenten-Diffamierung.

Insgesamt 90 NGOs sind inzwischen vom Justizministerium zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden. Viele von ihnen haben sich inzwischen aufgelöst, andere auf ausländisches Geld verzichtet. Die meisten aber gehen weiter ihrer Arbeit nach und klagen unverdrossen gegen die Prüfungen und die staatliche Agenten-Diffamierung.

Das ist angesichts russischer Gerichte eine große, ja eine stoische Kuns, wie diese Woche erst wieder eine Gerichtsverhandlung in Moskau zeigte, in der das Menschenrechtszentrum Memorial sich gegen eine 300.000-Rubel-Strafe wehrte, weil es angeblich seiner Agentenpflicht nicht nachgekommen sei, sich öffentlich (hier: auf der Website von Memorial) „Agent“ zu nennen. Selbstverständlich wurde die Beschwerde abgewiesen, doch der Reihe nach.

Im Frühjahr hat eine Studie des Human Rights Resource Centers aus St. Petersburg hat über 70 (!) verschiedene Begründungen aufgelistet, was der Staat alles für „politische Tätigkeit“ hält (zusammen mit ausländischem Geld die gesetzliche Voraussetzung, um eine NGO zum „Agenten“ zu erklären). Allein diese Aufzählung ist die Erfindungsgabe aller talentierten russischen Satiriker wert. Noch ein wenig absurder würde wohl nur eine Sammlung der Gerichtsverfahren, in denen die Richter/innen gegen jedes Recht und alle Regeln die staatsanwaltschaftlichen und justizbeamtlichen Erfindungen in Schuldsprüche umwandeln müssen. Ein besonderes Beispiel dafür war diese Woche, am 4. September 2015, die Verhandlung über die Beschwerde von Memorial.

Ich dokumentiere dazu das Plädoyer von Memorials Anwalt Kirill Korotejew.

„Euer Ehren, es ist sehr schwer, in einem Verfahren zu plädoyieren, dessen Resultat klar und vorentschieden ist, weshalb ich nicht auf die Unterschiede zwischen zwei juristischen Personen eingehen werde. Die sind offensichtlich. Es gibt Memorial International und es gibt das Menschenrechtszentrum Memorial. Das sind zwei unterschiedliche Körperschaften, die Unterschiedliches tun, die unterschiedliche Registrierungsdokumente haben, wir haben das alles in unserer Beschwerde aufgeschrieben. Die eine Organisation handelt nicht im Namen der anderen. Das Material, das im Internet zugänglich gemacht wurde, wird nicht vom Menschenrechtszentrum Memorial verbreitet, sondern von Memorial International. Das geht schon klar aus dem Text selbst hervor: „Indem sie den Versammelten den bekannten deutschen Historiker vorstellte, unterstrich die Leiterin der Bildungsprogramme von Memorial International Irina Scherbakowa …“ und so weiter. Der Text steht in der Rubrik „Memorial International/Nachrichten“. Das ist alles so oder so klar und wer Augen hat, der sieht.

Ich möchte ein wenig über etwas anderes sprechen, über juristische Solidität etwa. Wie ich schon gesagt habe, geht die Strafe davon aus, dass das Menschenrechtszentrum Memorial in das sogenannte Register nichtkommerzieller Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausfüllen, eingetragen wurde. Und wirklich, auf den ersten Blick, wenn man auf die entsprechende Website des Justizministeriums geht, findet man dort das Menschenrechtszentrum.

Allerdings muss man ein wenig genauer hinsehen, um dann folgendes zu entdecken. Wie aus der Entscheidung, die Sie nicht abwarten wollten, hervorgeht, wurde das Menschenrechtszentrum Memorial in das NGO-Agenten-Register auf Grundlage einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft vom 29. April 2013 eingetragen. Das ist ein fantastisches Dokument, in dem sich solche Formulierungen finden wie „Europäisches Gericht der UNO“ und anderer ähnlicher Unsinn. Diese Entscheidung hat die Staatsanwaltschaft aufgrund einer staatsanwaltschaftlichen Überprüfung getroffen, die in der ersten Tagen des März 2013 begann. Die Rechtmäßigkeit dieser Überprüfung haben wir im Samoskworezkij Kreisgericht angefochten, das die Beschwerde zurückgewiesen hat.

Aber das Verfassungsgericht der Russischen Föderation hat uns unterstützt. Das Verfassungsgericht hat uns, im Unterschied zu den Gerichten der unteren Instanzen, zugestimmt und anerkannt, dass die Staatsanwaltschaft bei der Überprüfung von Memorial ihre Vollmachten über die verfassungsmäßigen Grenzen ausgedehnt hat. Das ist zur allgemeinen Information in der Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 17. Februar 2015 Nr. 2-P veröffentlicht. Damit fallen die vorherigen Gerichtsentscheidungen wie ein Kartenhaus zusammen, nicht weil der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in irgendeinem weit entfernten Straßburg so entschieden hat, sondern unser Verfassungsgericht der RF, dass die Überprüfungen verfassungswidrig waren. Und das Ergebnis einer verfassungswidrigen Überprüfung kann nicht zu einer gesetzlichen Anordnung führen. Wenn es keine gesetzliche Anordnung gibt, dann gibt es auch keinen Grund für einen Eintrag in das NGO-Agenten-Register, weil das Justizministerium dafür keinen anderen Grund genannt hat.

Ich denke, nicht einmal Gogol und nicht Saltykow-Schtschedrin, ja ich fürchte, nicht einmal Kafka, bis heute kein Autor hat so eine absurde Situation beschrieben. Und bevor das so weiter geht, bitte ich Sie, wenn sie ihre Entscheidung treffen, deren Inhalt ohnehin allen bekannt ist, über Folgendes nachzudenken. Das Menschrechtszentrum Memorial existiert seit 1993. Die Gesellschaft Memorial selbst, deren Teil es ist, existiert seit dem Ende der 1980er Jahre. Nicht Sie haben sie geschaffen.

Und wenn es einen Autor gibt, den ich jetzt zitieren möchte, dann ist das Dostojewskij: „Aber der Mörder sind doch Sie“. Es ist unnötig, dass irgendwann ein zukünftiger Porfirij Petrowitsch diese Worte an Ihre Adresse richten muss: „Sie sind doch der Mörder!“

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