Krim

Konflikt im Asowschen Meer: Was ist passiert und wie soll man reagieren?

Am 25. November wurden die ukrainischen Schiffe „Berdjansk“, „Nikopol“ und „Jany Kapu“, die auf dem Weg von Odessa nach Mariupol die Straße von Kertsch durchfuhren, von Beamten des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) der Russischen Föderation festgehalten. Die russischen Grenzsoldaten wendeten während der Festsetzung lebensbedrohliche Gewalt an. In der Folge rammte das Küstenwachboot der Russischen Föderation einen ukrainischen Schlepper. Nach Angaben der ukrainischen Marine wurden sechs ukrainische Seeleute verwundet. Alle drei ukrainischen Schiffe wurden mitsamt den 23 Mann Besatzung in den Hafen von Kertsch gebracht, der sich auf dem Gebiet der besetzten Halbinsel Krim befindet. Später kündigte ein Sprecher des Präsidenten der Russischen Föderation die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen inhaftierte Matrosen an. Den Seeleuten wird das illegale Überqueren der Grenze vorgeworfen.

Dieser Vorfall wurde zu einem Wendepunkt im russisch-ukrainischen Asow-Konflikt, der sich in den letzten Monaten verschärft hat. Nach der Eröffnung der Krim-Brücke, welche die Straßenverkehrsverbindung zwischen Russland und der besetzten Krim herstellte, verstärkte die russische Seite ihre militärische Präsenz im Asowschen Meer und erschwerte ukrainischen Schiffen die Durchfahrt, obwohl die bestehenden internationalen Verträge beiden Ländern das ungehinderte Anlaufen ihrer Häfen garantieren. Das willkürliche Festhalten ukrainischer Schiffe und die militärische Aufrüstung sind von vielen ukrainischen und internationalen Experten als ein bewusstes Anheizen des Konflikts gewertet worden. Die Eskalation gipfelte in den Ereignissen vom 25. November.

Es ist wichtig, anzumerken, dass der Zusammenstoß im Asowschen Meer die erste offene Aggression Russlands gegen die Ukraine war. Trotz der Tatsache, dass der bewaffnete Konflikt zwischen den Parteien im Jahr 2014 mit der illegalen Annexion der Krim begann und sich dann in Form von Militäraktionen im Gebiet des Donbass ausweitete, hatte Russland zuvor keine militärischen Angriffe unter eigener Flagge gegen die Ukraine durchgeführt.

Der deutsche Politologe Andreas Umland, ein Experte des Institutes für Euro-Atlantische Kooperation und Spezialist für den russischen Ultranationalismus und Autoritarismus, nennt drei mögliche Gründe, warum eine solche Eskalation gerade jetzt stattfindet.

Die erste und am weitesten verbreitete Version lautet, dass Putins Beliebtheit abnehme und er deshalb mithilfe einer weiteren Machtdemonstration von den sozioökonomischen Problemen ablenken wolle. Der zweite mögliche Grund ist, dass möglicherweise Pläne existieren, das Asowsche Meer in ein russisches Binnenmeer zu verwandeln. Eine Rolle spielt möglicherweise auch der Wunsch, die ukrainische Wirtschaft durch das Blockieren der Häfen von Berdjansk und Mariupol negativ zu beeinflussen. Ein dritter möglicher Grund ist die Nachricht, dass der Neubau der Krim-Brücke angeblich verschoben wird. Demnach hätte der erneute Angriff mit dem Ziel stattgefunden, von dieser Nachricht, die dem Ansehen der russischen Behörden schadet, abzulenken.

Michail Gontschar, der das Zentrum für Globale Studien „Strategy XXI“ leitet, merkt an, dass die Situation in einem viel größeren Zusammenhang betrachtet werden sollte, nicht bloß als Konflikt zwischen den beiden benachbarten Ländern.

Russland beansprucht die führende Position in der Welt und demonstriert dem Westen auf jede mögliche Weise seine Stärke, indem es die Grenzen des Zulässigen testet. Neben den Vorfällen in der Ukraine und in Syrien sowie dem Skripal-Fall nennt Gontschar als aktuelles Beispiel den Ausfall des GPS-Navigationssystems in Norwegen und Finnland. Infolgedessen hatte beim NATO-Manöver in Norwegen die norwegische Fregatte den finnischen Tanker gerammt. Die Präsidenten beider Länder behaupten, die Ursache für den Unfall sei, dass die russische Seite absichtlich GPS-Störsignale erzeugt habe. Michail Gontschar behauptet, die Ukraine sei in dieser Ereigniskette lediglich ein Baustein einer globalen, gegen den Westen gerichteten russischen Aggressionspolitik.

Je weiter Russland gehe, desto zynischer und schamloser werde dort gelogen. Russland hat die Seeschiffe der Ukraine angegriffen, eines der Schiffe gerammt, die ukrainischen Schiffsbesatzungen beschossen und Besatzungsmitglieder inhaftiert – all dem zum Trotz beschuldigte Russland die Ukraine der Provokation und der Verletzung der Staatsgrenzen der Russischen Föderation und berief eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates ein, die am 26. November auch tatsächlich stattfand. Die Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen lehnten den von Russland vorgeschlagenen Wortlaut jedoch ab und die Sitzung wurde gemäß der vom UNO-Botschafter der Ukraine vorgeschlagenen Tagesordnung abgehalten.

Die Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrates äußerten ihre tiefste Besorgnis über die Ereignisse und forderten Russland auf, die inhaftierten ukrainischen Matrosen unverzüglich freizulassen und der Ukraine die Schiffe zurückzugeben. Der NATO-Generalsekretär und der Präsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE erklärten, sie würden die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine voll und ganz unterstützen. Der Internationale Währungsfonds wiederum ließ wissen, man werde die Zusammenarbeit mit der Ukraine auch dann nicht einstellen, wenn das Kriegsrecht in Kraft gesetzt würde.

Es besteht kein Zweifel, dass die Handlungen Russlands unter die Definition von Aggression fallen, wie sie in Artikel 3 der am 14. Dezember 1974 verabschiedeten Resolution 3314 (XXIX) der Generalversammlung der Vereinten Nationen (Absätze A, C und D) formuliert ist.

Die russische Seite hat durch ihre Handlungen gegen die Grundprinzipien der Vereinten Nationen verstoßen, die das Anwenden und Androhen von Gewalt in den internationalen Beziehungen verbieten. Verstoßen wurde auch gegen die Bestimmungen im Abschnitt 2 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen sowie im Artikel 2 des im Jahr 2003 unterzeichneten Vertrags zwischen Russland und der Ukraine über die Zusammenarbeit bei der Nutzung des Asowschen Meeres und der Straße von Kertsch.

Weil die Russische Föderation aber ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates ist und somit das Recht hat, gegen dessen Entscheidungen ein Veto einzulegen, dürfte es schwierig werden, Russland zur Rechenschaft zu ziehen. Allerdings verfügen die anderen UN-Mitgliedstaaten über die juristischen Instrumente, um im Rahmen des geltenden Völkerrechts eine friedliche Lösung des Konflikts herbeizuführen. Dafür müssten jedoch außerordentliche Anstrengungen unternommen und neue Ansätze entwickelt werden, die in der internationalen Praxis noch nicht realisiert worden sind. Laut Regel 9 ist es durchaus möglich, eine Dringlichkeitssitzung der UN-Generalversammlung einzuberufen. Wenn dann die Generalversammlung erkennt, dass ein wesentlicher Verstoß gegen die grundlegenden Prinzipien der Vereinten Nationen stattgefunden hat und dass Russland an dem Konflikt beteiligt ist, so kommt Paragraph 3, Artikel 27 der Charta der Vereinten Nationen zur Anwendung. Gemäß dem Grundsatz „in propria causa nemo judex“ wäre die russische Seite dann gezwungen, sich bei Abstimmungen des Sicherheitsrats in Bezug auf eine Lösung dieses Konflikts zu enthalten.

Es sei darauf hingewiesen, dass laut den Bestimmungen der Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen die 23 inhaftierten ukrainischen Seeleute den Status von Kriegsgefangenen haben. Deshalb dürfen „weder körperliche noch seelische Folterungen noch irgendein Zwang auf sie ausgeübt werden”. Zugleich haben die Häftlinge derzeit den Status von Verdächtigen, die eine Straftat begangen haben sollen. Sie sind höchstwahrscheinlich derzeit einer grausamen, erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung ausgesetzt.

Zwar hat die Ukraine noch nicht alle internationalen Rechtsmittel ausgeschöpft, aber viele Experten bezweifeln deren Wirksamkeit im Vergleich zu wirtschaftlichen Maßnahmen. Michail Gontschar ist der Ansicht, die Länder des so genannten Westens müssten gemeinsam entschiedene Maßnahmen ergreifen, um die Kette der illegalen Aktionen Russlands sowohl gegenüber der Ukraine als auch gegenüber der gesamten westlichen Welt zu zerschlagen. Sowohl Gontschar als auch Umland meinen, die realistischste Reaktion auf die aktuelle Lage sei, den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland auszusetzen und auch den Bau des zweiten Strangs der Turkish-Stream-Pipeline zu stoppen.

Die Ukraine selbst hat über die internationalen Rechtsmittel hinaus beispiellose Maßnahmen ergriffen, um die innere Sicherheit zu gewährleisten. Am 25. November 2018 hat der Präsident der Ukraine den Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat einberufen, auf dessen Initiative hin in der gesamten Ukraine das Kriegsrecht in Kraft getreten ist. Am 26. November hat die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, ein Dekret des Präsidenten zur Ausrufung des Kriegsrechts gebilligt.

Am 25. November 2018 hat der Präsident der Ukraine den Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat einberufen, der sich dafür einsetzte, in der gesamten Ukraine das Kriegsrecht durchzusetzen. Damit das Dekret des Präsidenten über die Einführung des Kriegsrechts in Kraft treten kann, ist die Zustimmung der Werchowna Rada erforderlich.

Der rechtliche Rahmen des Kriegsrechts wird durch das humanitäre Völkerrecht und das Gesetz der Ukraine über das Kriegsrechts festgelegt.

Das Kriegsrecht impliziert eine erhebliche Ausweitung der Befugnisse staatlicher Behörden bei gleichzeitiger erheblicher Einschränkung der Bürgerrechte. Die Einschränkung der Rechte von Personen, die sich auf dem Territorium der Ukraine aufhalten, kann fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens betreffen (Eigentumsrechte, Freizügigkeit, politische Rechte usw.). Im Text des Präsidialdekrets wird jedoch nur ein kleiner Teil der im Kriegsrecht erlaubten Maßnahmen genannt. Ob diese Liste erweitert wird, bleibt abzuwarten. Die Gültigkeit derartiger Notfallmaßnahmen im gesamten Hoheitsgebiet wirft ernsthafte Zweifel auf.

Besondere Aufmerksamkeit muss der Klausel über ein direktes Verbot von Wahlen für die Dauer des Kriegsrechts gelten. Mittels dieser Klausel, im Licht der ersten Fassung des Präsidialdekrets betrachtet, könnten die bereits für den 31. März 2019 angesetzten Präsidentschaftswahlen um mindestens einen Monat verschoben werden. Allerdings hat Petro Poroschenko nach vehementem Protest der Abgeordneten der Werchowna Rada seine Entscheidung geändert und die Dauer des Kriegsrechts auf einen Monat verkürzt. Darüber hinaus hat er die Gültigkeit des Kriegsrechts geografisch auf einige Regionen beschränkt.

Somit tritt das von der Werchowna Rada gebilligte Dekret zum Kriegsrecht in 10 Regionen der Ukraine in Kraft, und zwar am 28. November 2018 für 30 Tage, also bis zum 27. Dezember 2018. Die endgültige Fassung des Dokuments vom 27. November 2018 wurde noch nicht veröffentlicht. Der Präsident hat außerdem die Verwaltung des ukrainischen Grenzschutzes angewiesen, die Staatsgrenze zur Russischen Föderation sowie die administrative Grenze zur Autonomen Republik Krim zu verstärken. Der ukrainische Geheimdienst soll Maßnahmen zur Stärkung der Spionageabwehr, der Terrorismusbekämpfung und der Aufdeckung von Sabotage ergreifen. Das Wesen und das Ausmaß dieser Maßnahmen sind noch nicht vollends bekannt. Es liegt in der Verantwortung der Behörden, darüber Klarheit zu schaffen. Darüber hinaus enthält das Dekret einen geheimen Teil (Paragraph 12), der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist.

Am 27. November 2108 gab es keine weiteren Beschränkungen für auf ukrainischem Gebiet befindliche Personen, was deren Fortbewegung und Aufenthalt im Land sowie das Überqueren der Grenzen betrifft. Die Verwaltung des Flughafens von Boryspil hat offiziell erklärt, dass die Verabschiedung des Kriegsrechts die Mobilität der Bevölkerung nicht beeinträchtige und dass der Flughafen den normalen Betrieb weiterführen werde.

Palina Brodik
Koordinatorin des Aufklärungsprogramms, Free Russia House, Kiew

Wladimir Zhbankow
Rechtsberater, Free Russia House, Kiew

Азовский инцидент: что произошло и как реагировать (Russian version)

Azov Sea Conflict: what happened and how to react (English version)

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