Anastasija Zotova: Der einzige Eindruck ist: ein kompletter Schock, Hölle und die Surrealität der Ereignisse

Ehefrau des Aktivisten Dadin nach Besuch bei ihrem Mann im Lager Segezha: Das ist die Hölle, ich habe einen vollkommen anderen Menschen gesehen

Anastasija Zotova, die Ehefrau des verurteilten Aktivisten Ildar Dadin, konnte ihren Ehemann im Straflager Nr. 7 in der karelischen Stadt Segezha besuchen. Nach dem Gespräch mit ihrem Ehemann erzählte sie dem Korrespondenten von "7×7", was sie in der Besserungsanstalt sehen konnte.

Ehefrau des Aktivisten Dadin nach Besuch bei ihrem Mann im Lager Segezha: Das ist die Hölle, ich habe einen vollkommen anderen Menschen gesehen

Anastasija Zotova, die Ehefrau des verurteilten Aktivisten Ildar Dadin, konnte ihren Ehemann im Straflager Nr. 7 in der karelischen Stadt Segezha besuchen. Nach dem Gespräch mit ihrem Ehemann erzählte sie dem Korrespondenten von "7×7", was sie in der Besserungsanstalt sehen konnte.

Anastasija Zotova: Der einzige Eindruck ist: ein kompletter Schock, Hölle und die Surrealität der Ereignisse; denn am 22. August, als Ildar und ich uns sahen, war er ein vollkommen anderer Mensch — energisch, fröhlich, erzählte, dass sie sich im Untersuchungsgefängnis quasi sonnten.

— Das war in Moskau

— Ja, die Fenster werden geöffnet, sie liegen da und sonnen sich. Und wenn ich das sehe, dann ist das irgendeine Hölle: seine Hände zittern, die Lippe zuckt, in die  eine Richtung, in die andere… Die Wange zuckt, ein ständiger nervöser Tick. Er versucht zu sprechen und bekommt keine Luft. Ich hatte Angst, dass er jetzt irgendeinen Anfall bekommt. Deswegen habe ich ihm ständig über den Hörer hinter Glas gesagt: "Ruhig, ruhig, beruhige dich, alles ist gut." Das ist sehr schrecklich. Und er sagt, dass — ungeachtet des ganzen Aufsehens dort — die Menschen weiter genau so geschlagen werden. Hast du das Interview mit Kaljapin in der "Novaja Gazeta" gelesen?

— Noch nicht.

— Darin erzählt Kaljapin, wie sie daran gehindert wurden mit den Menschen zu sprechen; wie ihnen gesagt wurde "schwätzt nichts"; wie Menschen, die mit Plakaten raus wollten, in ein anderes Lager gebracht wurden und die Menschenrechtler sie nicht treffen durften. D.h., es ist klar, dass die Strafvollstreckungsbehörde in jeder Hinsicht [die Aufklärung] stört. Ildar erzählt, dass die Menschen weiter so geschlagen werden, morgens hört man Schreie. Er selbst wird nicht geschlagen, aber er wurde in ein er Zelle für aufmüpfige Häftlinge untergebracht und sitzt mit einem Mann, der wirklich verrückt ist. Es wird weiter Druck auf ihn ausgeübt, er erhält weiter nichts zu essen.

— Hast du mit ihm über die Verlegung in ein anderes Straflager gesprochen?

— Ich habe mit ihm über die Verlegung in ein anderes Straflager gesprochen. Er sagt, dass er keine Verlegung will, weil die anderen weiter geschlagen werden und er sie nicht im Stich lassen kann, weil er über mich wenigstens einige Verbindung zu Medien hat, zum Anwalt. Und wenn er von hier weggeht, dann werden die anderen überhaupt nichts haben. In Kaljapins Interview heißt es, dass acht Personen versucht haben, die Aufmerksamkeit des Menschenrechtsrates zu gewinnen, mit Plakaten auf ein Dach geklettert sind — sie wurden in ein anderes Straflager gebracht. Und Kaljapin hat gefragt, ob er dort hinfahren kann. Nein, das geht nicht. Vielleicht werden sie zurückgebracht? Nein, das geht nicht. Das ist alles. Diese Menschen haben versucht, Aufmerksamkeit zu erregen und was jetzt mit ihnen ist, ist unbekannt. Ich zum Beispiel weiß nicht, wer diese Menschen sind. Ildar hat wegen der Ereignisse jetzt die Möglichkeit irgendwie die Aufmerksamkeit auf dieses Problem zu lenken. Er hat z.B. eine Anzeige an das Ermittlungskomitee diktiert. Er selbst hat nicht die Möglichkeit, Anzeige zu erstatten. Dort wird ihnen verboten, quasi irgendetwas zu schreiben. D.h. der Tagesablauf sieht so aus: zu der und der Zeit machst du Ordnung, in der und der Zeit machst du das und das. Zeit, um sich hinzusetzen und zu schreiben, gibt es tatsächlich nicht. Deswegen hat er erzählt und ich habe alles aufgeschrieben. Sobald ich wieder in Moskau bin, sobald ich online bin, schicke ich die Anzeige an das Ermittlungskomitee ab.

Was ich tun werde? Ich werde trotz allem darum bitten, dass er in ein anderes Straflager verlegt wird, dass er einfach in ein Krankenhaus gebracht wird; denn das ist einfach nicht normal. Ildar sieht genauso aus wie mein 80-jähriger Großvater nach dem Schlaganfall. Dieser zitternde Mund, diese Lippen, all' das… Er ist 34 Jahre alt, das ist nicht normal. Wenn er in diesem Straflager bleibt, dann weiß ich nicht, womit das endet.

— War seine Anwältin bei ihm? Gibt es auf dieser Seite irgendwelche Bewegungen?

— Seine Anwältin war gestern bei ihm, aber ich habe noch nicht mit ihr sprechen können, weil entweder sie im Flugzeug war oder ich. "Du bist auf dem Festland und ich auf dem Meer — wir können uns nicht treffen" [Anm. d. Übers.: Zitat aus einem Schlager]. Wenn ich wieder in Moskau bin, werden wir reden. Weiter hat sie versprochen, die Anwältin in Segezha anzurufen, damit Ildar Kontakt zu einem lokalen Rechtsbeistand hat, der einmal am Tag kommen kann; denn Ildar sagt: "Ich habe nicht die Möglichkeit, Beschwerden zu schreiben. Es muss mich ein Anwalt besuchen, der all' diese Beschwerden schreiben kann". Gegen die ganzen Unterbringungen im Strafisolator muss Beschwerde eingereicht werden, weil klar ist, dass sie rechtswidrig waren.

Wir haben vier Stunden gesprochen, ich saß da, habe mitgeschrieben… Die Hälfte von dem, was er sagte, habe ich nicht verstanden. Das muss jetzt alles auf dem Computer getippt, vielleicht ins Englische übersetzt und veröffentlicht werden, weil das derart höllisch ist. Er hat sogar dasselbe erzählt, wie in dem Brief, aber in den Details ist es noch viel höllischer. Es ist einfach unglaublich.

— Die Gespräche über den Telefonhörer — werden sie nicht kontrolliert? Hört niemand mit?

— Die Gespräche über den Telefonhörer werden natürlich mitgehört. Mir kommt es so vor, als habe die gesamte Lagerleitung unsere Gespräche mitgehört. Aber sie können ihm ja nicht verbieten, über alles zu sprechen.

— Was für Hilfe braucht es, was für Handlungen?

— Ich weiß es noch nicht. Ich bin gefragt worden, was Menschen machen können, die keine russische Staatsangehörigkeit haben — aus Europa, der EU… Ich sage allen dasselbe: Es müssen Briefe geschrieben werden, es muss an das Ermittlungskomitee geschrieben werden mit der Forderung den Fall zu untersuchen. Es muss, ich weiß nicht, Moskalkova [Anm.d.Übers.: rus. Menschenrechtsbeauftragte] angeschrieben werden, die gesamte Leitung der Strafvollstreckungsbehörde; es müssen Forderungen geschrieben werden, Ildar wegen seines Gesundheitszustandes in ein Krankenhaus zu verlegen. Das Thema muss verbreitet werden, weil man jetzt versucht, alles zu vertuschen. Vielleicht weißt du das, was ich aus dem Interview mit Kaljapin weiß: sie wurden von einem Mann namens Fedotov durchs Lager geführt. Er ist der frühere Leiter des Straflagers Nr. 7., als es 2012 Nachrichten über Folter gab. Danach wurden diese Nachrichten freudig vertuscht, Fedotov befördert und als sein Nachfolger kam Kossiev. Es ist offensichtlich, dass sie Kossiev decken werden; sie werden alles unternehmen, damit das nicht nach oben weitergegeben wird.

Alle bei Verstand müssen zugeben, dass es Folter überhaupt nicht geben darf. Das muss weltweit bekämpft werden. Ich weiß nicht, ob wir dagegen in allen Straflagern siegen können. Genau in diesem Lager müssen alle, die an Folter beteiligt waren, bestraft werden; insbesondere müssen sie strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden und nicht nur disziplinarisch. Das ist glasklar.

— Das heißt, es braucht maximale Öffentlichkeit. Das ist das Wichtigste, was man tun kann.

— Ja, denn wenn es keine Öffentlichkeit gibt, können sie alles anstellen, was sie wollen. Die einzige Chance ist, Aufmerksamkeit, v.a. in Moskau, zu erzeugen. Denn in Karelien sind alle miteinander verbandelt.

— Wie oft kann Ildar jetzt überhaupt Besuch und Pakete erhalten?

— Pakete gibt es unter verschärften Haftbedingungen (die er offensichtlich widerrechtlich erhalten hat) alle vier Monate, Kurzzeitbesuche einen im Halbjahr, Langzeitbesuche ebenso, d.h. vier Besuche im Jahr. Er hat versprochen, einen Antrag für einen Langzeitbesuch zu stellen. Aber das ist ein Problem, weil er dort nicht schreiben kann. Wie ich schon sagte, bekommen sie nicht die Zeit zu schreiben. Ich muss ins Lager kommen und sagen "Gebt mir einen Langzeitbesuch". Und es kann sein, dass er nicht gewährt wird.

* * *

Der Aktivist Ildar Dadin ist der erste, der in Russland nach $ 212.1 StGB RF ("Mehrfacher Verstoß gegen die Regeln für Organisation oder Durchführung einer Versammlung, Meetings, Demonstration, eines Marsches oder Kundgebung") verurteilt wurde.

Im September 2016 wurde er in das karelische Besserungslager Nr. 7 in der Stadt Sergezha gebracht, von wo er über einen Anwalt seiner Frau von Folter berichtete. Dadin wurde im Straflager von Igor Kaljapin und Pavel Chikov, Mitglieder des Menschenrechtsrats beim russischen Präsidenten, besucht, die schlussfolgerten, das die Beschwerden "sich vor Ort bestätigen lassen". Die föderale Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkova hat nach einem Treffen mit Dadin empfohlen, ihn in ein anderes Straflager zu verlegen.

Es gab Dutzende Aktionen für Ildar Dadin in Russland und im Ausland. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat Dadin als politischen Gefangenen anerkannt.

Übersetzung — Martina Steis

Gleb Jarovoj, "7×7" http://7×7-journal.ru/item/88926