Ildar Dadin: „Wenn ich im Lager gestorben wäre, hätte Putin sich nur zufrieden die Hände gerieben.“

Der russische Aktivist Ildar Dadin wurde vor einer Woche aus dem Straflager Rubzovsk im Altaier Gebiet freigelassen. Ildar ist der erste Verurteilte nach § 212.1 StGB RF für wiederholten Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. Er wurde im Februar 2015 [Anm. d.Übers.: tatsächlich am 15.01.] auf dem Manegeplatz während einer Unterstützungsaktion für Aleksej Navalnyj und dessen Bruder Oleg Navalnyj festgenommen.

Der russische Aktivist Ildar Dadin wurde vor einer Woche aus dem Straflager Rubzovsk im Altaier Gebiet freigelassen. Ildar ist der erste Verurteilte nach § 212.1 StGB RF für wiederholten Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. Er wurde im Februar 2015 [Anm. d.Übers.: tatsächlich am 15.01.] auf dem Manegeplatz während einer Unterstützungsaktion für Aleksej Navalnyj und dessen Bruder Oleg Navalnyj festgenommen.

Im Februar diesen Jahres hob das Präsidium des Obersten Gerichts der Russischen Föderation das Urteil gegen Dadin auf und verfügte seine Freilassung.

Wir haben Ildar Dadin per Skype kontaktiert, um ihn zu fragen, wie es ihm geht und welche weiteren Pläne er hat.

Alena Badjuk: Wenn man die Ereignisse ein paar Jahre zurückdreht – damals hatten wir mit russischen Oppositionellen, die in die Ukraine umgezogen sind, diskutiert, dass Sie wussten, dass man Sie festnehmen und einsperren würde. Viele Oppositionsaktivisten haben beschlossen, das Gebiet der Russischen Föderation zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Warum haben Sie in diesem Moment entschieden zu bleiben, Sie haben doch die Folgen verstanden?

Ildar Dadin: Ja, ich habe die Folgen verstanden. Nach der vorläufigen Festnahme wegen einer angeblichen Ordnungswidrigkeit, für die ich 15 Tage Haft erhalten hatte, habe ich im Sondergefängnis Georg Orwells Roman "1984” gelesen. Vor der Lektüre dieses Buches hatte ich mich darauf eingestellt, dass ich bis zuletzt in Russland friedlich kämpfen werde, für die Rechte der Menschen und für den Sturz des tschekistisch-faschistischen Putin-Regimes. Und sobald ich erfahre, dass ein Strafverfahren eröffnet ist, werde ich emigrieren und von außen gegen dieses Regime kämpfen.

Aber nach dem ich das Buch gelesen, das System des absoluten Bösen gesehen hatte, wenn der Mensch, der in diesem Buch beschrieben wird, nur dafür gefoltert wird, dass er ehrlich und im Einklang mit seinem Gewissen leben will, und bin am Ende erschrocken, als er dazu gezwungen wird, darum zu bitten, dass seine Freundin gefoltert wird, da war ich schockiert und habe Parallelen zu Russland gezogen. Und ich habe verstanden, dass der physische Tod nicht so schrecklich ist wie die Möglichkeit, das totale Böse zuzulassen, wie es in diesem Buch geschieht.

Deswegen habe ich entschieden zu bleiben, trotz einer möglichen Inhaftierung; und wenn es nur eine Chance von tausenden gibt, das absolute Böse nicht zuzulassen, dann werde ich sie nutzen.

Tatjana Kurmanova: Orwells Held wurde letztlich gebrochen. Auch Sie haben im Interview mit russischen Medien erzählt, dass Sie auch gefoltert wurden.

Ildar Dadin: Ja, ich wurde auch gefoltert und ich habe immer noch Angst einzugestehen, dass ich in der zweiten Minute gebrochen war, als sie mich an den Handschellen aufgehängt und gesagt hatten, dass sie jetzt einen Gefangenen kommen lassen, der mich vergewaltigt.

Ich habe darüber nachgedacht, ob ich dazu bereit bin, meinen Widerstand aufzugeben und zuzustimmen, dass meine Ehefrau oder Mutter gefoltert würden. Mir schien, dass ich mit "Ja" geantwortet hätte. Die nächsten drei Tage ging es mir deswegen am schlechtesten, ich wollte sogar Selbstmord begehen. Denn mir schien, dass sie mich vollkommen zertreten und meine Würde zerstört haben.

Alena Badjuk: Was hat Ihnen geholfen, in der kritischen Situation zu überleben?

Ildar Dadin: Vor der Veröffentlichung von Nastjas Brief [Anm.d.Übers.: Dadins Ehefrau, die einen Brief über seine Folter veröffentlicht hatte] war die erste Motivation zu überleben, dass es Nastja sehr weh tun wird, wenn ich sterbe.

Ebenso habe ich verstanden, dass, wenn ich meine Existenz beende, Putin, der oberste Schurke Russlands, sich nur zufrieden die Hände reiben wird, dass es einen Kämpfer weniger gegen die Tschekisten gibt.

Aber die größte Motivation war der dritte Grund, der darin bestand, dass ich ein Mensch geblieben, nichts Verwerfliches getan habe. Und es ist nicht mehr schrecklich jederzeit sterben zu können, mein Gewissen ist rein. Ich wollte überleben, um den Menschen die Wahrheit über dieses Böse erzählen zu können und über die schrecklichen Folterungen, die in diesem Lager geschahen. Der Wunsch, den Menschen die Wahrheit zu vermitteln, gab mir Kraft, das auszuhalten und nicht Selbstmord zu begehen.

Alena Badjuk: Was belegt die Aufhebung des Urteils aufgrund der fehlenden Tatbestandsverwirklichung? Ist das eine Ausnahme, die die Regel über sogenannte gerechte Gerichtsverfahren in Russland bestätigt, oder ist das ein positives Zeichen?

Ildar Dadin: Das war kein Gerichtsverfahren, sondern eine Anweisung von oben. Wir haben schon lange keine Gerichte mehr, von gerechten Verfahren ist nichts mehr in Russland übrig.

In erster Linie hat der Druck der Zivilgesellschaft die Banditen dazu gezwungen, diesen "Nachtfaltern" in Richterrobe die Anweisung zu geben, meine Freilassung zu verfügen.

Alena Badjuk: Sie haben in Ihren Interviews davon gesprochen, dass Ihre Hauptaktivität der Kampf gegen Folter sein wird. Welche Mechanismen sehen Sie für diesen Kampf?

Ildar Dadin: Angesichts der Tatsache, dass es in Russland keine Organe der Rechtspflege, sondern nur der Rechtsverletzung gibt, sehe ich als einziges Mittel für den Kampf dagegen, diese Ereignisse öffentlich zu machen. Die Stärke der ehrlichen Leute liegt in der Wahrheit. Die Stärke eines faschistischen Staates – wie auch eines jeglichen autoritären Staates – liegt in der Lüge und Unehrlichkeit. Denn obwohl keine Strukturen zum Schutz der Menschenrechte in Russland funktionieren, bleibt der Weg in die Öffentlichkeit und die Forderung, diejenigen Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen, die Menschen erniedrigen und foltern. Ich sehe keine andere Vorgehensweise.

Alena Badjuk: Henadij Afanasiev, ein ukrainischer politischer Gefangener, der seine "Strafe" in Russland verbüßte, bemüht sich um die Teilnahme an vielen internationalen Projekten, tritt bei vielen Menschenrechtsplattformen auf, um über das System an sich zu erzählen und über das Verhältnis zu politischen Gefangenen. Haben Sie vor, in einem solchen Format zu arbeiten?

Ildar Dadin: Ich will erst alle Formen des möglichen Kampfes gegen Folter in russischen Straflagern analysieren. Wenn das von Ihnen erwähnte Format effektiv erscheint, dann werde ich es natürlich nutzen.

Alena Badjuk: Unterscheidet sich das Verhalten gegenüber einem Gefangenen, der aus politischen Gründen verurteilt wurde?

Ildar Dadin: Mir schien, als habe die [Lager-]Verwaltung Angst vor Politischen. Im Straflager Nr. 7 haben mir die anderen Gefangenen gesagt, dass ein Mensch ohne Beziehungen sehr leicht vernichtet werden kann, wenn er der Lagerleitung missfällt. Ein Mensch, der eine Familie und Verwandte hat, ist wesentlich unbequemer. Noch unbequemer ist ein Mensch mit Unterstützung aus der Gesellschaft. Wenn ein Verurteilter ein Politischer ist, hat er mehr Garantien für seine Sicherheit.

Tatjana Kurmanova: Als Sie einsaßen hieß es in den russischen Medien, dass Sie sich geprügelt und falsch verhalten hätten. Anastasija Zotova hatte erklärt, dass das Falschinformationen seien. Kann man irgendwie auf dieses System einwirken?

Ildar Dadin: Die Hauptwaffe der Verbrecherbande, die an der Macht ist, ist Lüge und Unehrlichkeit; sie verleumden eine Menschen anstatt ihre eigenen Mitarbeiter zur Verantwortung zu ziehen, die in Ausübung ihrer Amtstätigkeit Verbrechen begehen.

Methoden des Kampfes gegen sie sind: die Widersprüche aufzuzeigen, die es in ihrem Vorgehen gibt, wenn sie dazu verpflichtet sind, die Rechte der Gefangenen zu schützen, sie stattdessen aber nur verletzen und die Verbrechen ihrer Mitarbeiter decken.

Alena Bardjuk: Haben Sie vor, die ukrainischen Gefangenen zu unterstützen? Aktionen zu ihrer Unterstützung durchzuführen oder zu versuchen, sie zu kontaktieren?

Ildar Dadin: Ich werde die Aufmerksamkeit auf ihre Unterstützung richten, weil das anständige und offensichtlich unschuldige Menschen sind.

Tatjana Kurmanova: Womit werden Sie Ihren Kampf gegen Folter beginnen? Nach der Veröffentlichung Ihres Briefes über Folter haben die russischen Medien geschrieben, dass das gelogen sei. Wenn man bedenkt, dass die meisten russischen Medien voreingenommen sind – wie kann man dann Ihrer Meinung nach den Menschen wahrheitsgemäße Informationen übermitteln?

Ildar Dadin: Voreingenommene Medien interessieren mich nicht, ich werde nur mit ehrlichen Menschen zusammenarbeiten. Ich weiß, dass die Situation in der Welt immer von einer Minderheit verändert wurde. Ich will mich für die Arbeit mit normalen Menschen zusammenschließen, die nach ihrem Gewissen leben. Und die verstehen, wo gelogen wird und wo nicht.

Alena Badjuk: Als der Krieg im Donbass begann, haben Sie eine Protestaktion gegen diesen Krieg durchgeführt. Planen Sie weitere ähnliche Aktionen?

Ildar Dadin: Hätte Russland nicht seine verlogene Propaganda begonnen und sich aggressiv verhalten, gäbe es keinen Krieg.

Was meine Teilnahme angeht, so werde ich in der ersten Zeit meine ganze Kraft auf die Beendigung der Folter in Karelien richten. Aber ich werde immer Zeit für allgemeine zivilgesellschaftliche Aktivität finden; dabei werde ich auch Aktionen durchführen, bei denen ich gegenüber unseren Kremlfaschisten, die derzeit formell noch unsere Diener sind, verkünden werde, dass sie keinen Krieg gegen die Ukraine führen sollen.

Alena Badjuk: Haben Sie Pläne, die Ukraine zu besuchen?

Ildar Dadin: Erst will ich mich einfach physiologisch erholen, um effektiver gegen die Folterung von Gefangenen kämpfen zu können.

Später will ich die Ukraine besuchen. Ich habe viele positive Emotionen, die mit dem Maidan verbunden sind. Ich habe noch nie so viele anständige Menschen gleichzeitig auf einem Platz gesehen.

Original – Hromadske Radio

Übersetzung – Martina Steis